Im Dinosaurier Provinzial Park im kanadischen Alberta ist seit 60 Jahren die Zeit stehen geblieben. Wo heute verschneite Prärien und Weidefelder das flache Land schmücken, herrschte damals tropisches Klima. Riesen Echsen und Flugsaurier zogen hier über das Land.
Die Landschaft ist flach, die Straßen sind langgezogene. Am Fenster ziehen Weizenfelder und Graslandschaften vorbei. Der Horizont ist weit, der Himmel blau. Vom Highway 876 herunter geht es auf eine asphaltierte Landstraße. Eine Farm mit Pferden auf den Weiden. Am Straßenrand stehen Warnhinweise „Achtung Klapperschlange“. An einer Kreuzung steht eine Werkstatt mit einer drei Meter großen Dinosaurier Figur. Vom Beifahrersitz zeigt ein Finger auf den Dino: „Siehst du das? Voll süß.“ Ching-Hui ist nun seit einem halben Jahr in Kanada. Sie kam mit einem Work & Travel Visa in das zweitgrößte Land der Welt. Eigentlich wollte sie nach Europa, doch mit 31 war sie bereits zu alt um ein solches Visa für ein europäisches Land ihrer Wahl zu bekommen. Für Taiwan stehen auch nicht alle Länder offen. Kanada gefällt ihr: „Es ist hier nicht so schwül wie in Taiwan. Und ich bekomme hier mehr Lohn. Zuhause habe ich nur den Mindestlohn bekommen.“ Sie hat schwarze mittellange Haare mit einem Pony, ist um die 1,65 Meter groß, schlank und hat ein jugendliches Äußeres.
Zwischendurch zückt sie ihre Spiegelreflexkamera und knipst aus dem fahrenden Auto heraus ein paar Bilder. Heuballen. Pferde. Die Strecke zieht sich. Eine Bergkuppel. Ein riesiger Krater tut sich auf, das Gelände fällt ab. Spitze Hügel, merkwürdige Berge, ein Fluss, grüne Wiesen, Bäume. Ein Land aus einer anderen Zeit.
Der „Dinosaur Provincial Park“ liegt mitten in den „badlands“ von Alberta, ein mit Tiefen und Engen geschnittenes Gelände. Es liegt 235 Kilometer östlich von Calgary und 50 Kilometer nordöstlich von Brooks. Der Park verläuft auf 27 Kilometer entlang des Red Deer Flussufers und vermisst 6,4 Kilometer an seinem breitesten Punkt. Seine Fläche beträgt über 80 Quadratkilometer.
Durch starke Regenfälle wurden die oberen Schichten des flachen Prärielandes weggeschwemmt. 50 Jahre nach den ersten Fossilfunden, beschloss der Gouverneur von Alberta das Gebiet am 27. Juni 1955 als Provinzial Park zu etablieren. Bis heute wurden mehr als 49 Dinosaurierarten aus der späten Kreidezeit gefunden. Dies macht vier bis fünf Prozent der bekannten Arten aus. Nach großen Regenschauern wird immer wieder weiches Gelände weggespült. Meistens kommen so neue Fossilien zu Tage. Der Provinzial Park wurde für seinen bemerkenswerten Reichtum an Dinosaurier- und Wirbeltiere-Fossilien, am 26. Oktober 1979 ins U.N.E.S.C.O. Weltkulturerbe aufgenommenen. Weitere Gründe dafür waren das einzigartige Biotop, das Lebensraum für viele Vogelarten sowie kleine Reptilien und anderen typisch kanadischen Säugetieren bietet und weil es sich hierbei um das größte Ödland Kanadas handelt.
Zunächst geht es einige Meter in das Tal hinunter. Auf dem ersten Parkplatz steht ein Informations-Center, das ebenfalls als Museum fungiert. Weiter unten, keine drei Minuten zu Fuß, ist ein weiterer Parkplatz. Er gehört zum anschließenden Campingplatz. Zunächst schreitet Ching in das Center um sich noch ein paar Infos zu holen. Von den ausgestellten Dinosaurierknochen ist sie schier begeistert. Man hört nur noch das Klicken ihrer Kamera. Die Frau an der Information meint, dass es sich hier nur um eine kleine Auswahl an Knochen und Ausstellungsstücken handeln würde. Um mehr zu sehen, müssten wir nach Drumheller ins paläontologische Royal Tyrrell Museum. Das liegt jedoch rund 180 Kilometer weiter nordöstlich von hier.
Nichtsdestotrotz lässt sich Ching nicht entmutigen. Sie ist ja schließlich wegen dem Park gekommen und hier gibt es ja auch einige Wanderpfade zu erkundigen. Der erste Pfad fängt direkt neben dem
Info-Center an. Ching bleibt zunächst an einem Warnhinweis stehen. Hunde sollte man an der Leine halten und man sollte auch nicht in Löscher greifen. Es bestehe die Gefahr von Skorpionen
gestochen zu werden. Zur Umgebung würde dies durchaus passen. Der Boden ist trocken, steinig und es gibt nur wenig Vegetation hier. Ching spaziert weiter. Zunächst geht es etwas auf. Der
Trampelpfad ist eng, kaum Platz für zwei Personen. Für einen alleine jedoch ideal. Überall ranken komische Felsformationen in den Himmel. Helle Säulen mit kleinen Dächern drauf. Irgendwie sehen
sie aus, wie riesige versteinerte Pilze. Der Stein sieht bröselig aus. Tatsächlich sind überall kleine Löscher im Boden. Chings Finger ist immer am Abzug. Sie dokumentiert die verschiedenen
Felsformationen, den Blick in die Landschaft, den Weg. Oben angekommen genießt sie die Aussicht in das Tal. Grüne Wiesen, Flüsse, Bäume und Büsche. Eine wahnsinnige Aussicht.
Dann drückt sie mir die Kamera in die Hand und posiert mit einem Bein auf einem Stein, das andere in der Luft und mit dem Finger auf die komischen Felsformationen im Hintergrund zeigend: „Hast du
es?“ „Moment“, meine ich. Darauf sie: „Ich kann mich hier nicht ewig so halten.“ Ein paar Fotos sind im Kasten. Ching nimmt die Kamera wieder an sich, lächelt und bedankt sich.
Vor 76 Millionen Jahren war hier noch alles Flach und sprühte von grünen Pflanzen. Außer wenn wieder einmal ein Vulkan graue Asche in den Himmel gepustet hat und sich diese über das Land verbreiteten. Flüsse und kleinere Gewässer verliefen bis zum „Bearpaw Sea“ (Bärenpfoten Meer), einem riesigen Meer mitten im Land. Die Uferregionen waren geschmückt mit Schlickwatt und Sümpfen voller Rohrkolben, die zu den Süßgrasarten gehören. Dagegen wuchsen an den trockneren Gegenden Mammutbäume in die Luft. Da die trägen Flüsse mit größeren Gesteinsbrocken nicht klar kamen, änderten sich die Flusswege immer wieder. So wurde die ganze Gegend mit feinen Sedimente, wie Ton oder Sand, bedeckt. Man nennt diese Periode auch die Oldman-Formation.
Während der „Bearpaw Sea“ das ganze Land vor 73 Millionen Jahren bedeckte, konnten sich neue Schichten über das Oldman Sediment legen. Das Bärenpfoten Meer hatte mittlerweile eine Größe der heutigen Hudson Bay erreich. Diese Phase dauerte eine ganze Weile an, bis sich vor 60 Millionen Jahren die Rocky Mountains bildeten. Sie entwässerten das ganze Gebiet und hinterließen Prärien und Hügel östlich der Rockies.
Die nächste große Phase liegt vergleichsweise nah zurück, nämlich nur 15.000 Jahre – auch als unsere letzte große Eiszeit bekannt. Geologische Daten gibt es hiervon kaum, weil der Wisconsin Glasier über das Land scheuerte. Jedoch riss das Schmelzwasser tiefe Gräben und Kanäle in die neuenddeckte Oldman Formation. Auch der Red Deer River benutzt diese zirka 120 Meter tiefen Kanäle, die sich durch verschieden farbige Gesteinsschichten geschnitten hatten.
Die Hoodoos, so werden die aus Sandstein bestehenden Gesteinssäulen aus Nordamerika genannt, nahmen immer absurdere Formen an. Im Boden waren Kuhlen mit Einkerbungen und Zwischenpodesten sowie kleine Höhlen. Ching kniet sich hin und huscht wie ein kleines Kind hinunter. Dann stellt sie sich in eine Kuhle an der Felswand, die Finger zu einem Peace-Zeichen geformt, den Kopf leicht angewinkelt und ein Lächeln. Knips. Dann stellt sie sich auf die andere Seite, wieder ein Peace-Zeichen. Knips und wieder ein Foto. Anschließend klettert sie auf das Plato. Es war vielleicht zwischen 1,20 und 1,40 Meter hoch. Sie hockt sich hin, bringt sich in Position, lächelt und hält ihren Daumen raus, als ob sie per Anhalter fahren möchte. Die Fotos mit ihr sind geschossen. Dann klettert sie herunter, ergreift wieder ihre Kamera und macht weitere Aufnahmen von der Umgebung und dem Blick ins Tal. Ab und zu muss sie warten, weil ein älteres Paar mit Hund ebenfalls hier umherstreift. Dabei ist sie sehr geduldig. Das Paar ist zwischendurch aber auch so nett und geht ein paar Schritte zur Seite. Nun hat sie wieder freie Sicht und kann mit ihrer Kamera herum experimentieren.
Eine Holztreppe führt hinunter ins Tal. Ganz neu sieht diese zwar nicht mehr aus, Einsturzgefahr besteht aber keine. Ching hält sich am Seil fest, dass das Geländer markiert und folgt der Treppe. Unten angekommen geht es eigentlich über eine kleine Holzbrücke weiter gerade aus. Unter der Brücke fließt ein Bächlein. Ching findet die Umgebung weiter links spannender und entscheidet sich dafür am Bach entlang zu gehen. Hier hat man auch eine bessere Sicht auf die Felsen und kann diese in der Froschperspektive, von unten herauf fotografieren. Darüber hinaus ist es hier ein bisschen schattiger und man kann die verschiedenen Pflanzen näher betrachten. Der eingeschlagene Weg führt aber zum Campingplatz, an dem sich einige Wohnmobile befinden. Hier gibt es überall Bäume, Feuerholzstellen und Trinkwasserzugänge. Wieder am Parkplatz angekommen, schnappt Ching sich erst einmal eine Wasserflasche aus dem Auto. Kalt ist das Wasser nicht mehr, trotzdem trinkt sie die Flasche aus und greift sich eine neue. Auf der Anhöhe gab es kaum Schatten. Dem entsprechen dehydriert ist sie. Der nächste Pfad ist etwas weiter weg, deswegen setzen wir uns zunächst ins Auto.
Um zum nächsten Wanderweg zu gelangen, geht es zunächst über eine schmale Brücke und eine enge, unbefestigte Straße. Ein grauer Chevrolet kommt von der anderen Seite. Doch hier ist es kein Problem sich zu arrangieren. Kanadier nehmen sich gerne Zeit und machen einen äußerst relaxten Eindruck. Am Wanderweg angekommen, stellen wir das Auto zunächst ab. Zuschließen braucht man hier nicht. Angst, dass jemand hier einbrechen könnte gibt es nicht. Selbst zu Hause schließt Ching fast nie die Haustür ab. Bei diesem Pfad handelt es sich um einen Rundweg. Die Kamera hat sie bereits in der Hand. Nach den ersten Metern fällt ihr ein rot lackiertes Kinderfahrrad auf. Einen Moment lang bleibt sie stehen: „Ich kann niemanden sehen. Bestimmt gehört das jemanden vom Campingplatz“, und zeigt dabei auf das Fahrrad.
Dann geht sie weiter. Ihre Blicke schweifen über die Felsen, deren Formen und Farben. Sobald sie auf einer Anhöhe steht, kommt sie zur Ruhe und genießt die Umgebung. Von hier aus kann sie schöne Fotos machen. Hier oben hat der Boden einen stärkeren rot-stich als in der Umgebung drum herum. Das Buschwerk hier oben ist trocken und karg. Aus der Ferne kommen zwei Gestalten den Weg entlang. Ein Mann und ein Junge, anscheinend sein Sohn. Man sieht, wie es in Chings Gesicht kurz klick macht: „Das Fahrrad gehört bestimmt dem Jungen da.“ Eine genaue Antwort bekommen wir darauf nicht. Jedoch ist das Fahrrad verschwunden, als wir wieder an den Ausgangspunkt gelangen und sonst haben wir auch niemand anderen gesehen dem es gehören könnte.
Am nächsten Pfad steht ein Häuschen. Es ist ein Schaukasten mit ausgestellten Fossilien, die hier in der Nähe gefunden wurden. Vor der Fensterfassade gibt es Knöpfe und Lautsprecher. Ching drückt einen der Knöpfe und eine Stimme auf Englisch erzählt, was man hier sieht. Es handelt sich um die Überreste eines Hadrosauriers, auch „Entenschnabelsaurier“ genannt. Dabei handelt es sich um einen bis zu vier Tonnen schweren Pflanzenfresser, der hier vor rund 75 Millionen Jahren herumstreifte. Oftmals kann die genaue Art aber nicht bestimmt werden, da durch den verwesten und fehlenden Nackenmuskel die Köpfe weggespült werden. So auch bei diesem Zweibeiner. Nicht weit von hier weg, ist der Ausgrabungsort. Viel sehen kann man aber nicht mehr. Nur die Punkte der Ausgrabung sind noch abgesteckt.
Chings Interesse schwindet. In ihrem Gesicht kann man lesen, dass sie langsam keine Lust mehr hat. Archäologie ist nicht gerade das Thema, wofür sie sich hinreißen kann. Müdigkeit und Hunger
schmücken ihr Gesicht. Auf die Frage, ob sie noch Lust hätte, meinte sie nur: „Ist schon okay.“ Die Männer unter euch wissen jetzt natürlich was kommt. Hunger und Müdigkeit im Zusammenhang mit
„ist schon okay“ aus dem Mund einer Frau, heißt nicht, dass irgendetwas okay ist. Sie möchte langsam zum Schluss kommen. Etwas essen und sich ausruhen. So sind unsere Frauen eben. Dabei muss aber
auch gesagt werden, dass, obwohl die Landschaft so umwerfend aussieht, sich die Umgebung nicht großartig verändert. Dort wo es von Vegetation nur so sprießt, soll man nicht entlang gehen. Es
würde nur der Fauna stören. Durchaus nachvollziehbar.
Auf der Agenda steht noch eine weitere Fundstelle mit Dino-Fossilien. Dabei handelt es sich um die Überreste der Centrosaurier und die des Albertosaurus. Der Centrosaurus, auch „gehörnter Dinosaurier“ genannt, gehört zu den Pflanzenfressern. Die 1977 gefundenen Fossilien beweisen, dass es sich hierbei um Herdentiere handelt. Vermutlich sind die Vierbeiner in ihrer Herde unterwegs gewesen. Als sie dann an einen strömenden Fluss kamen, konnten sie nicht mehr abbremsen und haben sich gegenseitig in die Fluten geschoben und sind dadurch ertrunken. So vermuten es zumindest die Wissenschaftler.
Dagegen gehört der Albertosaurus zu der Familie der Tysannosauriern. Das größte gefundene Skelett der „Echse von Alberta“ beträgt neun Meter Länge und acht Meter Höhe. Somit war dieser zweibeinige Fleischfresser größer als sein Bruder T-Rex. Das war es dann auch. Ching ist müde und ein langer Tag geht zur Neige. Wir machen und zurück zum Auto und auf den Heimweg. Ein langer anstrengender Tag, in einer vergessenen Welt vor unserer Zeit. Happy Birthday zu sechzig Jahren Dinosaurier Provinzial Park.
by Patrick Klapetz
Date 2015, June 27th
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